Festvortrag anläßlich des 75. Jahrestages der Gründung der Gesellschaft
Aachen, 18. Mai 1996
Herr Präsident, meine Damen und Herren!
Bei meinem Bericht über Werden und Wachsen unserer Gesellschaft in nun 75 Jahren gibt es eine Schwierigkeit.
Es hat sich vieles ereignet, so vieles, daß es nicht möglich ist, das nun pedantisch nach Chronistenart nacheinander vor Ihnen auszubreiten. Das würde eine viel zu lange und auch wohl eine sehr langweilige Angelegenheit werden.
Erwarten Sie stattdessen in der nachfolgenden Schilderung nur Ausschnitte in durchaus subjektiver Auswahl und teilweise anekdotischer Färbung, wobei vor allem die lange zurückliegenden Ereignisse und einige der dabei handelnden Personen in Erinnerung gebracht werden sollen.
Ich ordne das Material, das ich aus Verhandlungsberichten, Redetexten, Erzählungen und schließlich auch aus eigenem Erleben zusammengetragen habe, in der Weise, daß in einem 1. Teil berichtet werden soll, wie nach allerlei Geburtswehen unsere Vereinigung entstand und wie sie sich dann entwickelte, immer wieder durch äußere Einwirkungen, durch Krieg und Politik, in unserem so dramatischen Jahrhundert beeinflulßt und behindert. In einem 2. Teil will ich aufzuzeigen versuchen, wie sich im Spiegel von bisher 66 Jahresversammlungen der Ausbau unseres Faches darstellt, ablesbar an den Referaten, Vorträgen und Diskussionen.
Schließlich soll noch ein kurzer 3. Teil folgen mit einigen Betrachtungen über die Gesellschaft als Organisation, einst und jetzt.
Bekanntlich waren im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die beiden Ursprungsfächer Rhino-Laryngologie und Otologie schon vielerorts vereint, hauptsächlich wohl in den Praxen der niedergelassenen Kollegen, während sich das an den Universitäten erst teilweise vollzogen hatte.
In Rostock war das mit Otto Körner schon 1894 erfolgt, danach in Breslau 1896. An vielen anderen Universitäten wurden noch lange beide Fächer getrennt gelehrt, in München sogar bis 1934. Die beiden bedeutenden deutschen Fachzeitschriften, das schon 1864 gegründete "Archiv für Ohrenheilkunde" und das "Archiv für Laryngologie" firmierten um diese Zeit bereits mit den Titeln des gemeinsamen Faches. Nur die beiden sie tragenden Verbände, der "Verein Deutscher Laryngologen" und die "Deutsche Otologische Gesellschaft" fanden lange nicht zueinander. Da gab es offenbar hartnäckige Widerstände.
Endlich — es war inzwischen der 1. Weltkrieg ausgebrochen — hatten sich die beiden Vorstände nach langen Verhandlungen über Satzung und Geschäftsordnung zum Zusammenschluß durchgerungen. Da wurden noch so vordergründige Fragen geregelt, wie die, mit welchen Themen, laryngologischen oder otologischen, gemeinsame Veranstaltungen beginnen sollten. Nun mußten noch die beiderseitigen Mitglieder zur Abstimmung einberufen werden. Das war schwierig, denn Fachkongresse fanden eigentlich im Krieg nicht statt. Aber dann wurde dennoch eine Vereinigungstagung vorbereitet, und zwar sollte sie in Nürnberg stattfinden. Jedoch erwies sich der vorgesehene Ter min als völlig ungeeignet.
Es war ausgerechnet der 9. November 1918 festgelegt worden. Da aber war Revolution in Deutschland und aus der Sache wurde natürlich nichts. Dann, mittlerweile war es 1920 geworden, kamen die beiden Vorstände auf der Tagung der "Naturforscher und Ärzte" in Bad Nauheim wieder zusammen. Nun wurde ein neuer Anlauf genommen und der 12. Mai 1921, abermals in Nürnberg, für den Zusammenschluß anvisiert. Da nun, es war beinahe auf den Tag genau vor 75 Jahren, erfolgte die ersehnte Gründung.
Die feierliche Gründungsversammlung leitete als Vertreter der Laryngologen der in beiden Gesellschaften hoch angesehene Breslauer Professor Georg Boenninghaus (Abb. 1). (Sein Enkel, der nach meinen Berechnungen damals 3 Wochen alt war und der heute bei uns gleichermaßen geschätzt wird, wie der Großvater, ist — nun etwas älter als die Gesellschaft — unter uns.)
Die Rede von Boenninghaus senior, die im Verhandlungsbericht nachzulesen ist, drückt sehr deutlich die Stimmung unter den Deutschen nach dem verlorenen ersten Weltkrieg aus. Man empfand den Versailler Vertrag mit der Kriegsschuldzuweisung und seine weiteren Folgen als ein bitteres Unrecht.
So sagte Boenninghaus, indem er zu intensiver Arbeit aufrief: "Wenn man uns schließlich auch nicht liebt, so soll man uns doch achten." Dann gedachte er der vielen Toten, unter denen der erst kürzlich verstorbene Gustav Killian besonders gewürdigt wurde.
Dieser hatte bei den Laryngologen den Vereinigungsantrag mitgestellt. Seine ursprüngliche Gegnerschaft gegen eine Verschmelzung galt schließlich nur noch seiner laryngologischen Klinik an der Charite in Berlin. Dort drängte sein ungeliebter otologischer Partner, Adolf Passow, schon immer mit Macht auf die Vereinigung zum Gesamtfach, auch an den dortigen Kliniken. Sodann wurde über den Vereinigungsantrag und die neue Satzung abgestimmt und beides angenommen. Die Vereinigung hieß "Gesellschaft Deutscher Hals-Nasen-Ohrenärzte". Das war eigentlich nicht ganz glücklich, weil sie ja von Anfang an auch nichtdeutsche Mitglieder haben sollte und hatte. Die Wiedergründung nach dem 2. Weltkrieg führte dann zu dem geeigneteren Namen "Deutsche Gesellschaft der Hals-Nasen-Ohrenärzte".
1969 nahm sie den jetzigen Namen an. Einige Details hierzu: Die Laryngologen hatten 351 und die Otologen 528 Mitglieder. Es gab natürlich Doppelmitgliedschaften, so daß bei der Vereinigung 528 Mitglieder registriert wurden, heute sind es nahezu 3.500. In die nun gemeinsame Kasse brachten die Laryngologen 488 – und die offenbar wohlhabenderen Otologen 7.732 – Mark ein. Es wurde beschlossen, immer vor Pfingsten zu tagen, und zwar stets an wechselnden Orten. Auch die Bezeichnung "Jahresversammlung" mit einem geschäftlichen und einem wissenschaftlichen Teil, stammt aus diesem ersten Jahr.
Von folgendem Jahr an wurden die Verhandlungsberichte beim Springer-Verlag gedruckt, und zwar in der Zeitschrift für "Hals-Nasen-Ohrenheilkunde", die dann nach dem Krieg mit dem "Archiv" vereinigt wurde. Von 1923 an gab es den Brauch, vorab Hauptreferate anfertigen zu lassen und sie den Mitgliedern zuzusenden. Wir haben da also eine lange Tradition. Nach der Konstituierung wurde ein Vorstand gewählt, der sogleich amtierte. Vorsitzender — heute sagt man etwas pompöser "Präsident", aber das ist das gleiche — wurde der Chef der otologischen Klinik in Berlin, Adolf Passow.
Passow (Abb. 2) muß ein ganz ungewöhnlicher Mann gewesen sein. Sein Weitblick auf die Notwendigkeiten und Mögfichkeiten des jungen Faches sowie seine Führungs- und Durchsetzungsfähigkeit verdienen Bewunderung.
Er kam aus der militärärztlichen Kaiser-Wilhelm-Akademie und war in der Charite sowohl laryngologisch wie vor allem otologisch ausgebildet worden.
Nachdem er sechs Jahre lang otologischer Fachvertreter in Heidelberg war, kam er 1902 nach Berlin zurück und schuf dort eine auf hohen Touren laufende oto-rhinologische Klinik mit damals ganz neuen Einrichtungen, dem Röntgen, einem Felsenbeinlabor, einer Hör-Forschungsstelle — Vorläuferin der heute überall arbeitenden audiologischen Einrichtungen — und sogar einer phoniatrischen Betreuungsstelle.
Auch gab er zeitweilig dem Plastiker Joseph eine Möglichkeit, an der Klinik zu operieren. Er förderte die Fachwissenschaft mit der Gründung einer hochkarätigen wissenschaftlichen Zeitschrift, den "Passow-Schäferschen Beiträgen" und sammelte eine Schar begabter Schüler und späterer Klinikchefs um sich.
Schließlich gelang ihm sogar ein Klinikneubau, eigentlich ein Wunder, denn erst wenige Jahre vorher war das Gebäude einer Hals-Nasen-Klinik und Ohrenklinik entstanden. Man nahm an, daß dabei der Umstand behilflich war, daß Passow das Scharlachohr Kaiser Wilhelms zu behandeln hatte. Es ging die Redensart um: "Passow hat das Ohr des Kaisers". 1926 starb Passow, gerade, als er zu einem Besuch bei seinem kaiserlichen Patienten in Holland war.
Die junge Gesellschaft entwickeite sich gut. Sie hatte wenige Jahre später schon annähernd 1.000 Mitglieder. Die Versammlungen wurden gut besucht, auch von vielen Ausländern, vor allem aus Österreich, dazu auch den ehemaligen k. und k-Ländern, in denen die deutsche Verhandlungssprache geläufig war. Anfangs wurde immer noch eine Diskriminierung aus ehemaligen sogenannten "Feindländern" mit Bitterkeit empfunden. So gab es 1922 einen bezeichnenden Vorstandsbeschluß. Danach sollten "feindliche Ausländer", so die Formulierung, nur dann an einer Jahresversammlung teilnehmen dürfen, wenn sie sich in einem Revers verpflichteten, von solchen Kongressen fernzubleiben, zu denen Deutsche nicht zugelassen waren. Als dann einige Nachkriegsjahre vergangen waren und sich die Gemüter beruhigt hatten, schlug das Zeitgeschehen wieder zu. Diesmal traf es die noch schwachen Finanzen der Gesellschaft. Es war Inflation und der verzweifelte Schatzmeister, Carl Zarniko aus Hamburg, wußte nicht, wie er 5 Millionen für das Porto aufbringen sollte. Da waren die Beiträge aus valutastarken Ländern, besonders aus der Schweiz, willkommen. Dort wurde freiwillig mehr bezahlt, dafür gab es dann, als die Rentenmark kam, Beitragserlaß. A propos Beitrag: noch bis zum 2. Weltkrieg blieb es bei 12,— Mark, Assistenten zahlten die Hälfte. Eintritt wurde die ersten zehn Jahre nicht erhoben. Das in den folgenden Jahren mühsam geschaffene finanzielle Polster der Gesellschaft wurde noch einmal dezimiert durch den Börsensturz am berüchtigten "schwarzen Freitag" 1932.
Die Geldentwertung in der Inflation hatte auch noch andere Folgen. Alfred Denker (Abb. 3) hatte damals einen Preis von einer Million für eine Otosklerose-Arbeit gestiftet. Als er hätte vergeben werden sollen, waren es magere 100 Mark. Denker, der später hochherzig noch weitere Preise gestiftet hat, war Nachfolger des Stammvaters der Otochirurgie, Hermann Schwartze in Halle. Ihm ist mit Otto Kahler eine Großtat zu verdanken, die Herausgabe des neunbändigen Handbuches Ende der 20erJahre. Alles, was damals im deutschen Sprachbereich mitreden konnte, war daran beteiligt.
Das Handbuch, nach Art und Umfang in unserem Fach einzigartig und auch einmalig, wurde die solide Grundlage, auf der in den folgenden Jahrzehnten sich das Fach entwickeln konnte. Der andere Herausgeber, Otto Kahler (Abb. 4), hatte seine Laufbahn in Wien begonnen und gelangte schon mit 34 Jahren auf den Killianschen Lehrstuhl in Freiburg, wo er dann 35 fruchtbare Jahre wirkte.
Er war einer der Gründungsväter der Gesellschaft, auch Vorsitzender und vier Jahre Schriftführer. Er, der in Freiburg stadtbekannt war und von seinen Studenten liebevoll "Onkel Otto" genannte wurde, mußte noch die Zerstörung seiner Klinik bei Kriegsende erleben. 1929 tagte man in Königsberg, um die Verbundenheit mit dem durch den Versailler Vertrag abgetrennten fernen Ostpreußen zu bekräftigen. Vorsitzender einer inhaltsreichen, aber nur schwach besuchten Jahresversammlung war der dortige Lehrstuhlinhaber Paul Stenger (Abb. 5). Er ist den Nachgeborenen durch den Nachweis einer einseitigen Taubheit ("Stengerscher Versuch") vertraut. Zu erwähnen ist auch die enge Verbindung zu den Kollegen in den Nachbarländern, der Schweiz und Österreich. Sie fand ihren Ausdruck in der Abhaltung der Jahresversammlung 1927 und 1939 in Wien und 1930 in Basel.
Auch nach dem Krieg wurden solche dem wissenschaftlichen und persönlichen Austausch förderliche Unternehmungen wiederholt, wie sich die Älteren erinnern werden, so 1958 in Salzburg und 1976 in Basel. Auch wurden verschiedentlich namhafte Kliniker aus Österreich und der Schweiz zu Vorsitzenden bestimmt, zuletzt Rudolf Pfaltz aus Basel 1970 in Travemünde.
Nach zwölf Jahren ungestörten Wirkens, über deren fachlichen Ertrag später noch zu berichten ist, kam es mit dem Jahr 1933 und der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu ernsten Veränderungen. Schon im Anfang diesen Jahres wurde ein "Gesetz über das Berufsbeamtentum" erlassen, das das Ausscheiden jüdischer Kollegen aus vielen Positionen zur Folge hatte. Noch war nicht zu erkennen, welche fürchterliche Entwicklung da ihren Anfang nahm. Auf dem Kongreß dieses Jahres in Dresden fand der Vorsitzende, der Hamburger Hegener, in seiner Ansprache Worte des Bedauerns. Er sprach seine Anerkennung der gewissenhaften Forschungsarbeit der, wie es hieß, "Fachgenossen nichtarischer Abstammung" aus. Das war leider schon viel in jener Zeit.
Fatal in seiner Rede ist allerdings der Vergleich der betroffenen Kollegen mit Frontsoldaten, die bei einem Trommelfeuer im Krieg bedauerlicherweise auch mal von eigenen Granaten getroffen werden. Es kam in diesem Jahr und danach zum Ausscheiden vieler, schließlich aller jüdischen Mitglieder. In einem alten Mitgliederverzeichnis fand ich hinter vieien Namen den Vermerk "ausgetreten" oder "unbekannt verzogen". Darüber, daß womöglich das Ausscheiden erzwungen wurde, fand ich keine Hinweise in alten Akten. Der Aderlaß an fachlicher Potenz und, äußerlich gesehen, an der Mitgliederzahl war beträchtlich. Welche menschlichen Tragödien damit verbunden waren, beleuchtet das Schicksal des späteren Würzburger Ordinarius Max Meyer(Abb. 6). Er, der Sohn eines bekannten Berliner Laryngologen, befand sich im beruflichen Aufstieg als Oberarzt in Würzburg. Er hatte für den Kongress 1933 das Hauptreferat über den Felsenbeinbau verfertigt und mußte es erläutern. Nun sah er sich ausgestoßen. Er emigrierte nach Ankara und dann Teheran, wo er angesehene Fachkliniken aufbaute. Nach dem Krieg kam er zurück ohne Vorwürfe, Bitterkeit oder Rachegedanken, betrieb den Wiederaufbau der zerstörten Würzburger Klinik als deren Chef und diente der Universität als Rektor.
Er ergriff dann 1949 die Initiative zur Wiedergründung unserer Gesellschaft. Nach 1933 änderte sich auch einiges am Bild der Jahresversammlungen. Aus dem "Kollegen" war der "Berufskamerad" geworden. Die Versammlungen begannen mit einem angeordneten Sieg-Heil auf den Führer. Davon abgesehen ging es jedoch nach wie vor sachbezogen zu mit wertvollen Referaten und Vorträgen, wie nachzulesen ist. In der Thematik gab es aber doch auch Zeitbezogenes. So ging auf dem Kongreß 1938 in Bonn der Vorsitzende, Herrmann Marx (Abb. 7) , in seiner Ansprache auf die naturheilkundige Medizin ein. Dazu muß man wissen, daß damals diese Richtung in der Person von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß einen mächtigen Förderer hatte. Es wurde eine "neue deutsche Heilkunde" mit allerlei diesbezüglichen Vorstellungen propagiert in starker Gegnerschaft zur Schulmedizin. Marx machte deutlich, dass unser Anliegen eine Heilkunde auf wissenschafflicher Grundlage sei und wandte sich deutlich gegen unverantwortliche Therapievorschläge dogmatischer Vertreter dieser Richtung.
Marx leitete damals die Würzburger Klinik und arbeitete wissenschaftlich auf pathologisch-anatomischer Grundlage. Er schuf ein "Kurzes Lehrbuch der Ohrenheilkunde", nach dem Krieg eine Pflichtlektüre für meine Generation, und dann im Alter auch noch eine "Nasenheilkunde".
Auf dem schon erwähnten Kongreß 1938 kam ein weiteres, viel bedenklicheres Thema zur Sprache. Es ging um die Abgrenzung der erworbenen von der erblichen Schwerhörigkeit und Taubheit. Im Hintergrund stand damals das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Bei erwiesener Erblichkeit konnte eine Zwangssterilisation angeordnet werden. Dazu wurden von den Ohrenärzten Gutachten gefordert, die schlimme Konsequenzen haben konnten. Ich habe nach dem Wortlaut der Vorträge und Diskussionen den Eindruck, daß eine kritische Einstellung vorherrschte.
Unter dem zeitgeschichtlichen Aspekt ist hier auch noch der zwei Jahre vorher in Berlin abgehaltene III. Internationale Kongreß, zugleich unsere 16. Jahresversammlung zu erwähnen. Es war das Jahr der Olympiade in dieser Stadt, die sich in trügerischem Glanz den ausländischen Teilnehmern aus 33 Ländern zeigte. Sie erlebten das Fach auf hohem Niveau. Präsident des perfekt organisierten Kongresses — Beginn pünktlich 8 Uhr, der Nachmittag war frei — war Carl von Eicken (Abb. 8). Ihm war es wohl zu danken, daß es von einer Begrüßungsrede des Ministers Rust abgesehen zu keinen politischen Tönen kam. Auch eine Gedenkfeier zum 100. Todestag Adam Politzers blieb unbeeinträchtigt von antisemitistischen Äußerungen. Von Eicken war Ordinarius in Gießen gewesen und hatte 1922 den Killianschen Lehrstuhl an der Charite übernommen.
Nach Passows Tod verschmolz er die beiden dortigen Kliniken zu einer mustergültig funktionierenden Einheit. Er blieb auch in der NS-Zeit unbelastet und stiftete ein offenbar beträchtliches Behandlungshonorar Hitlers dem wissenschaftlichen Nachwuchs. Er mußte noch erleben, wie seine glanzvolle Klinik in den letzten Kriegstagen schwer beschädigt wurde. Bis ins hohe Alter blieb er auf seinem Posten. 1939 kam man in Wien zusammen, das acht Monate vorher zur Hauptstadt der "Ostmark" geworden war. Auch dort war es zu einem Exodus bedeutender Kliniker und Wissenschaftler gekommen.
Eine Versammlung 1940 — es war Stuttgart mit dem Thema "Schädelverletzungen" vorgesehen — kam infolge des Krieges nicht mehr zustande. Einmal noch wurde im Krieg getagt, und zwar in Breslau 1943 bei begrenzter Teilnehmerzahl. Es ging da hauptsächlich um die Gesichtsverletzungen und die Wiederherstellungschirurgie. So gab der Krieg Impulse für die spätere Entwicklung der plastischen Chirurgie unseres Faches. Nach dem Krieg war in dem zerstörten Land bei Flüchtlingselend und Hunger an einen fachlichen Erfahrungsaustausch zunächst nicht zu denken. Zudem war unsere Gesellschaft, wie alle Verbände und Vereine, von den Militärregierungen aufgelöst worden. Viele Persönlichkeiten an den Universitätskliniken, von denen eine Wiederbelebung des wissenschaftlichen Lebens zu erwarten war, waren zeitweise oder für immer amtsenthoben und unterlagen der Entnazifizierung, ein Vorgang, der sich bei politischen Umbrüchen bekanntlich zu wiederholen pflegt, zum Kummer der Betroffenen. Ich habe das nicht zu kommentieren.
Wieder war die internationale Isolierung zu spüren, als auf den Internationalen Kongressen 1949 in London und 1953 in Amsterdam Deutsche nicht offiziell beteiligt waren. 1947 war man aber doch soweit wieder auf die Beine gekommen, da8 zunächst regionale Tagungen abgehalten werden konnten, so auch 1948 eine Versammlung der Süd-Westdeutschen Vereinigung in Rottenburg.
Dort ergriff man — hauptsächlich betrieben von Max Meyer — die Initiative zur Wiedergründung unserer Gesellschaft und lud für 1949, wieder in der Woche vor Pfingsten, nach Karlsruhe ein.
Max Schwarz, damals noch Chefarzt in Karlsruhe, später Ordinarius in Tübingen, übernahm die Vorbereitungen am Ort, unterstützt von dem damaligen Assistenten Max Meyers, Dietrich Pellnitz, heute Chefarzt im Ruhestand in Berlin. Der Umstand, daß Schwarz in Karlsruhe die Vorbereitungen betrieb, erklärt, warum unsere Gesellschaft dann dort amtsgerichtlich eingetragen wurde und sich da auch für dann 26 Jahre unsere noch bescheidene Geschäftsstelle mit Frau Annemarie Werner befand. Am 2. Juni 1949 war es dann soweit. Die konstituierende Versammlung der Gesellschaft, die nun geändert "Deutsche Gesellschaft der Hals-Nasen-Ohrenärzte" hieß, leitete als Alterspräsident Carl von Eicken.
Er gedachte der vielen Toten, der Verschollenen und der in die Emigration Getriebenen, von denen nur wenige zurückgekommen waren, unter ihnen Franz Kobrak, der da ein gedankenreiches Referat über den Labyrinthliquor erstattete. Wer allerdings gehofft hatte, daß nun ein ungestörtes Arbeiten in unserer Vereinigung beginnen konnte, sah sich alsbald getäuscht. Schon bei den ersten Jahreskongressen nach dem Krieg waren die Mitglieder aus dem Osten an der Teilnahme und am Beisammensein mit ihren glücklicheren Kollegen im Westen durch Reiseverbote schwer behindert, und wer dann reisen konnte, hatte infolge der Währungsunterschiede kaum Geld. Die Teilnehmer aus dem Osten waren sozusagen die armen Verwandten, wie ich nur zu gut weiß. Ich muß das traurige Kapitel hier nicht vertiefen, will aber doch noch erwähnen, daß sich sogleich eine solidarische Hilfsbereitschaft entwickelte.
Es gab privat kollegiale Unterstützungen und Zuwendungen aus der Kasse. Nebenbei: die Ostkollegen wollten nicht Almosenempfänger sein. Sie überwiesen viele Jahre einen Beitrag auf ein Ost-Konto zur zunächst unbestimmten Verwendung. 1990, nach der Wiedervereinigung, gelangte so ein schöner Betrag in die Kasse.
Die Vorgänge nach dem sogenannten Mauerbau, so der später von den Behörden im Osten erzwungene Austritt fast aller Ost-Mitglieder aus unserer Gesellschaft, brachte den Vorstand, dem ich damals angehörte, neue Probleme.
Sollten wir die Austrittserklärungen berücksichtigen oder die Mitglieder weiter in unseren Verzeichnissen führen, und konnten denen damit nicht Nachteile erwachsen. Dann kam es angesichts der Isolierung zwangsläufig und berechtigt zur Bildung einer eigenen DDR-Fachgesellschaft, in der sich ein hochwertiges fachliches Leben mit gutem Zuspruch aus dem Ausland entwickelte. Das alles ist Ihnen bekannt und bedarf keiner weiteren Abhandlung.
Unsere Gesellschaft ist nun wieder ungeschmälert das, was sie von Anfang an war: die gesamtdeutsche Plattform für alle mit unserem Fach Verbundenen zum Vortragen, Diskutieren und Zuhören. Wir dürfen hoffen, daß es dabei hinfort keine Störungen durch politische Gegebenheiten mehr geben wird. Man hat einmal unsere Jahresversammlungen als Meilensteine beim Fortschreiten des fachlichen Wissens bezeichnet.
Werfen wir nun in einem 2. Teil meines Berichtes einen Blick auf den Weg von 75 Jahren mit 66 Versammlungen und sehen wir, wie sich das Spektrum der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde verändert und weitergebildet hat. Beim Blättern in den Berichten der Zwischenkriegszeit fällt auf, daß es einst manche offenbar brennende Probleme gab, um die man sich in intensiven Erörterungen bemühte, und daß viele davon heute gegenstandslos geworden sind. Dazu gehört die Lues, die Schleimhauttuberkulose, der Lupus, das Sklerom und die Ozäna. Epidemiologische Fakten und neue Therapiemöglichkeiten haben hier Wandel geschaffen.
Auch manche einst wichtig genommene Behandlungsverfahren, etwa die Reizkörpertherapie, sind kaum noch ein Thema. Nachdenklich stimmt in unserer umweltbesorgten Zeit, daß das jetzt als so schädlich verurteilte Ozon seinerzeit in einem Vortrag von Otto Steurer, damals noch Chef in Rostock, als Heilmittel für die uns anvertrauten Organe hoch gepriesen wurde. Die bakteriellen Erkrankungen und ihre lebensgefährlichen Komplikationen bestimmten damals, anders als heute, in großem Umfang die Thematik. Die Hals-Nasen-Ohrenheilkunde war ein Fach mit großer Patientensterblichkeit und Dramatik im klinischen Alltag. So waren unsere beruflichen Vorfahren, von denen ich einige anführen will, bemüht, die Pathogenese abzuklären und wirksame Eingriffe auszuarbeiten.
1928 erstattete Wilhelm Lange (Abb. 9) ein Referat über die Mastoiditis. Er war damals Ordinarius in Leipzig und als ausgebildeter Pathologe einer der Begründer unserer auf der Morphologie aufgebauten Krankheitskenntnisse. Ihm, einem Handwerkersohn aus Dresden, einem bescheidenen, etwas gehemmten und jeder Selbstdarstellung abgeneigtem Mann, verdanken Fach und Gesellschaft, deren Vorsitzender und Schriftführer er war, viel. Lange stand er mit seinen Auffassungen in einem wohl nicht ganz emotionsfreien Gegensatz zu Karl Wittmaack (Abb. 10) , der gleichfalls morphologisch arbeitete. Er schuf das viel diskutierte Gebäude der Pneumatisationslehre und in Hamburg am Ende seiner Tätigkeit eine in den Wirren der Zeit nicht mehr genügend beachtete Tonuslehre des Labyrinthes. Wittmaack war wohl ein streitbarer Mann. Er blieb schon bald den Versammlungen fern. Walther Uffenorde (Abb. 11) wirkte fast 25 Jahre in Marburg als angesehener Kliniker und Operateur. In seinen Arbeiten und einer viel benutzten Operationslehre wurden ebenfalls die pathologisch-anatomischen Vorgänge zum Verständnis für die Behandlungsnotwendigkeiten abgehandelt. Auch er wirkte für uns als Vorsitzender und Schriftführer. Seine erfolgreiche Tätigkeit fand ein tragisches Ende, als er 1945 in der Besatzungszeit sein Amt verlor. Er starb noch vor seiner völligen Rehabilitierung. Wenn man die Verhandlungsberichte jener Jahre liest, hat man den Eindruck, daß heftig diskutiert wurde. Gefürchtet wegen seiner Attacken muß da besonders der Dresdner Rudolf Panse, Vorsitzender 1922 in Wiesbaden, gewesen sein. Wie man mir erzählte, bekam er von den erbosten Rednern den Beinamen "Schimpfpanse".
Natürlich gab es auch, wohl betonter als heute, eine Hierarchie. Tonangebend waren die Ordinarien, Widerspruch durch junge Leute war schwer vorstellbar. Da passierte 1932 auf dem Kongress in Bad Ems etwas Unerhörtes. Einige Jahre vorher hatte der hochangesehene Geheimrat Otto Voß (Abb. 12), der otologische Ordinarius in Frankfurt und Vorsitzender 1928, ein verdienstvoller Streiter gegen die übermächtigen Chirurgen und Verfasser wichtiger Arbeiten über die Schädelverletzungen, etwas veröffentlicht über einen sogenannten Ü-Strahler. Mit diesem von einem Ingenieur Mülwert entwickelten Gerät, das hochfrequente Schallwellen erzeugte, hatte Voß Hörverbesserungen bei verschiedenen Formen von Schwerhörigkeit gesehen, ebenso — natürlich — auch einer seiner Schüler in einer Publikation.
Da trat nun ein junger Kölner Oberarzt auf und erklärte ziemlich respektlos auf Grund physikalischer Überlegungen und kritischer Nachprüfungen, daß das Ganze völlig wertlos und wissenschaftlich unhaltbar sei. Nun, da gingen die Wogen hoch. Voß trat erbost aus der Gesellschaft aus und konnte später nur mit Mühe und mit Ehrenerklärungen besänftigt werden. Der vorlaute Oberarzt, auf dessen akademische Karriere man damals nicht viel gewettet hätte, war Hermann Frenzel (Abb. 13). Der Vorgang kennzeichnet ihn, der dann doch ein angesehener Klinikchef in Göttingen wurde. Er war ein Mann strenger und schonungsloser Kritik, von der seine Schüler ein Liedchen singen können. Er hatte schon früh als Assistent von Brünings in Greifswald und später bei Güttich in Köln sich mit dem Vestibulis befaßt und dann ein ganzes System in Diagnostik und Krankheitszuordnung entwickelt. Jeder kennt die "Frenzel-Brille". Nach dem Krieg war er einer der Mitwirkenden bei der Wiedergründung unserer Gesellschaft, ihr Vorsitzender und Schriftführer.
Eben nannte ich Wilheim Brünings (Abb. 14). Auch er war ein beeindruckender Mann mit unerhörtem Ideenreichtum und durchaus genialen Zügen. Vor dem ersten Weltkrieg schon war ihm als Mitarbeiter von Killian in Freiburg die Konstruktion der Broncho- und Laryngoskope wesentlich zu verdanken, später vieler weiterer Instrumente. Es wird erzählt, dass er als Ordinarius in Greifswald in der Freizeit sich mit der Anfertigung hervorragender Möbel beschäftigt habe, worauf er von der dortigen Tischlerinnung zum Ehrenmitglied ernannt worden sei. (Einige dieser Möbel können übrigens bei Herrn Kastenbauer in München besichtigt werden.)
Wenn Brünings, der später in Jena und München die Kliniken leitete, auf den Jahresversammlungen vortrug, war immer etwas Neues und Orginelles zu erwarten, gleichviel, ob es sich um Hörgerätekonstruktionen oder um Liquorzirkulationsfragen und anderes handelte. Nur war er bei den Vorsitzenden gefürchtet, weil er nie die Redezeit einhielt und seine Diskussionsbemerkungen, wie ich selbst noch erlebt habe, kein Ende nehmen wollten. Man traute sich nicht, ihm das Wort abzuschneiden. Es fehlt die Zeit, weitere für uns damals wichtig gewordene Personen näher zu beschreiben, so Alfred Seifert (Abb. 15) in Kiel und Heidelberg, der viele wegweisende chirurgische Konzepte entwickelte und schon früh, 1937, über die otochirurgische Entfernung von Akustikusgeschwülsten berichtete, ferner Alfred Güttich (Abb. 16) in Köln, der sich gleichfalls diesen zugewandt hat und darüber hinaus der ganzen neuro-otologischen Diagnostik.
Abb. 15 | Abb. 16 | Abb. 17 |
Großes Gewicht auf den Zusammenkünften hatten auch die Arbeiten Walther Albrechts (Abb. 17) und seiner Schüler in Tübingen über konstitutionspathologische Fragen, worüber auch 1936 in Berlin verhandelt wurde. Bei der Durchsicht alter Programme fällt auf, daß fast alljährlich die Phoniatrie zur Sprache kam. 1938 war sie Hauptthema mit einem wichtigen Referat von Max Nodoleczny aus München.
Man muß es bedauern, daß sich dieses anregende und interessante Wissensgebiet heute von unseren Versammlungen entfernt. Bisher berichtete ich vom Fachlichen und den handelnden Personen in der Zeit vor dem Krieg. Nun, danach gab es einen Nachholbedarf bei uns gegenüber den Fortschritten, die in den nicht vom Krieg betroffenen Ländern erreicht worden waren. So wurde die Mikrochirurgie des Ohres wichtig, zunächst bei der Behandlung der Otosklerose. Unter denen, die damals wertvolle Beiträge, auch aus anderen Gebieten, lieferten, nenne ich stellvertretend für andere Hans Heermann aus Essen, der wie sein Vater schon mit bewundernswertem Engagement neue Wege ging und immer wieder darüber berichtete, ferner Alfred Jauerneck aus Berlin und Hans Zangemeister aus Hamburg. Neu war da auch die verstärkte Zuwendung zu audiologischen Fragen. Zwar hatte man schon früher in vielen Kliniken ein noch umständlich zu handhabendes Hörgerät, das "Otaudion", doch nun wurden handliche Audiometer entwickelt, vornehmlich aus den Atlaswerken in Bremen. Dort hatte man sich von der kriegswichtigen Produktion nautischer Geräte umgestellt.
Es bildete sich ein kleiner Arbeitskreis an diesen Fragen Interessierter mit Bernhard Langenbeck, Bonn, und Alf Meyer zum Gottesberge, Düsseldorf, dazu Physiologen und Physiker. Das war damals neu: eine lockere, formlose Erörterung im kleinen Kreis.
1955 umfaßte der Vorläufer der ADANO nur noch 15 Personen. Von dem dort Erarbeiteten wurde dann dem Plenum Ertragreiches mitgeteilt. Heute gibt es zahlreiche weitere solcher Arbeitsgemeinschaften für andere Themen. Es ist zu hoffen, daß diese bei allem Eigenleben doch im Verband unserer Gesellschaft integriert bleiben und die Gesellschaft schließlich nicht, wie es einmal Kleinsasser formuliert hat, zu einer Art "Holding" wird. Beim Vergleich der thematischen Schwerpunkte einst und nun in der Nachkriegszeit fällt auf, daß früher nur spärlich über die Tumorerkrankungen vorgetragen wurde, die jetzt bekanntlich in den Kliniken den Alltag bestimmen. Das mag mit der damals geringeren Malignomhäufigkeit und wohl auch den begrenzten Behandlungsmöglichkeiten, von der Bestrahlungstherapie abgesehen, zusammenhängen.
Die große Tumorchirurgie wurde anfangs noch vielfach außerhalb des Faches betrieben. Ich nenne da Gluck und Soerensen in Berlin. Da wurde der Kongreß in Hamburg 1951 wichtig. In einem Referat behandelte Johannes Zange (Abb. 18) das chirurgische Vorgehen beim Kehlkopf- und Hypopharvnxkrebs. Es gründete sich auf große eigene Erfahrungen und gab wichtige Impulse für die hinfort bis an die Grenzen des Möglichen entwickelten tumorchirurgischen Verfahren in unseren Kliniken. Zange war auch einer der Männer, die unser Fach auf diesem und auf anderen Feldern wirkungsvoll vorangetrieben haben. In strenger Zucht, fordernd und auch fördernd hat er, erst in Graz und dann in Jena, mit befähigten Mitarbeitern Bedeutendes geleistet.
Die gewaltige Aufgabe, die die Malignombehandlung uns stellt, hat er früh gesehen und in seiner Klinik, die auch über eine eigene Bestrahlungseinrichtung verfügte, Therapiekonzepte entwickelt. Ein anderes damals viel besprochenes und heute von den Vortragslisten nahezu verschwundenes Thema war der "Fokus". Die Frage, wann und wie von Zähnen und Tonsillen eine große Fülle von Erkrankungen ausgehen kann, wurde bis zum Überdruß erörtert, ohne daß, wie ich finde, es zur Klarheit kam. Da hatte sich 1951 eine fachübergreifende Arbeitsgemeinschaft gebildet, der viele Zahnärzte angehörten und der auch unsere Gesellschaft kooperativ beigetreten war. Sie tagte alljährlich in Bad Nauheim und nannte sich anfangs "Arbeitsgemeinschaft für Herdforschung".
Als, so hat man mir erzählt, auf die Tagungsankündigung hin irrtümlich auch manche Ofensetzer angereist waren, nannte sie sich um in "Arbeitsgemeinschaft für medizinische Herdforschung". Sie ist inzwischen entschlafen. Ich könnte nun noch Vielerlei, nun auch aus eigenem Erleben vortragen, muß mich aber beschränken und will lediglich noch einige Versammlungen aus den späteren fünfziger Jahren, die mir besonders erinnerungswert erscheinen, also in subjektiver Einschätzung erwähnen. Da fand 1955 in der mittelalterlichen Konzilshalle in Konstanz eine Jahresversammlung unter der Leitung von Richard Mittermaier (Abb. 19) statt, der damals in Marburg und später in Frankfurt wirkte und der sich unter anderem um die Entwicklung der Elektronystagmographie verdient gemacht hat. In Konstanz nun ging es um die Hörtheorie, über die Otto Ranke, der strenge Erlanger Physiologe, referierte.
Das war und ist ein schwieriges Gebiet, zu dem er in seinem Schlußwort sinngemäß sagte, es sei eigentlich zu schwer für die Ohrenärzte. Hauptvortragender war der aus Amerika gekommene, spätere Nobelpreisträger Georg von Bekesy, Ehrenmitglied bei uns.
Ich habe noch im Ohr, wie er vor seinem hochinteressanten Vortrag über die Wanderwelle bemerkte, daß er beeindruckt sei, in einem Saal zu sprechen, in dem schon hochbedeutende Versammlungen stattgefunden hatten, als Amerika noch nicht entdeckt war.
1959, auf dem Kongreß in Bad Godesberg, erstattete der Baseler Ordinarius Ernst Lüscher ein faszinierendes, auch heute noch lesenswertes Referat über die funktionellen und psychischen Störungen auf unserem Gebiet. Im nachfolgenden Hauptvortrag des Münsteraner Psychiaters Mauz zu diesem Thema er heiterte uns dessen Bonmot: "Auch Orest und Effie Briest würden sich heute wohl in einer Fachklinik befinden und vielleicht tonsillektomiert sein."
Besonders wichtig wurde die Versammlung 1957 in Baden- Baden. Da kam es zu einer Bilanz über die hörverbessernden Operationen. Fritz Zöllner (Abb. 20) erstattete das Referat, gestützt auf große Erfahrungen an seiner Freiburger Klinik, die er nach dem Krieg in 23 Jahren geleitet hat und in der weitere wichtige Themen, die Tubenfunktion, die Hörgeräteversorgung, um nur die zu nennen, bearbeitet wurden. Auch entstand dort die deutschsprachige Sprachaudiometrie, der "Freiburger Sprachtest", durch Hahlbrock.
Abb. 20 | Abb. 21 | Abb. 22 |
In einem mir unvergeßlichen Hauptvortrag hat dann Horst Wullstein, Würzburg (Abb. 21), sein Gesamtkonzept der Tympanoplastik vorgelegt und imponierende Zahlen gebracht. Da konnten andere mit noch bescheideneren Resultaten nicht mithalten.
So kam es zu der berühmt gewordenen, barschen Aufforderung an Diskussionsredner, die aber kaum Zahlen vorlegen konnten: "Hosen runter!" Wullstein, der in rastlosem Wirken die hörverbessernden Operationen als beglückendes neues Arbeitsgebiet in der ganzen Welt bekannt gemacht hat, hat immer sehr klar und weitsichtig die umfassenden Aufgaben unseres Faches erkannt und dafür gekämpft. Dazu gehört auch sein Eintreten für die früher oft vernachlässigte plastisch-rekonstruktive Chirurgie.
Hierbei haben dann viele weitere engagierte Mitglieder unserer Gesellschaft in Publikationen, Vorträgen und Operationskursen sich große Verdienste erworben. Ich nenne von den Verstorbenen nur einen. Es ist Hans-Joachim Denecke (Abb. 22), der in Heidelberg zunächst an der Universitätsklinik und dann in einer dortigen Spezialklinik tätig war. Bei beschränkten Arbeitsmöglichkeiten hat er in staunenswertem Einsatz Außerordentliches geleistet. Mit großem Ideenreichtum zeigte er immer wieder neue Wege auf, führte hervorragende Filme vor und belebte unsere Versammlungen als temperamentvoller und kompetenter Redner mit Referaten und Vorträgen sowie fundierten Diskussionen.
Von seiner erstaunlichen Arbeitskraft zeugen mehrere Operationslehren und das jahrzehntelang betreute Zentralblatt. Ich muß zum Ende kommen und kann nur noch stichwortartig anfügen, wie die Jahresversammlungen zu Meilensteinen wurden auf dem beeindruckenden Aufstieg des Faches. In den sechziger Jahren wurden die Speicheldrüsenerkrankungen eingehend zur Sprache gebracht.
Einen Anstoß hierzu gab eine 1960 mit einem unserer Preise bedachte Monographie von Sigurt Rauch, damals Düsseldorf. Auf der österreichisch-schweizerisch-deutschen Jahresversammlung 1976 in Basel wurde es Hauptthema. Die in unserem Fach so wichtigen allergischen Erkrankungen fanden 1960 in Bremen unter dem Vorsitz von Gerhard Theissing, Erlangen, und 1970 in Travemünde unter Rudolf Pfaltz, Basel, eine eingehende Abhandlung.
Der Gesichtsnerv — bekanntlich ein oft sorgenvoll betrachteter Begleiter der Ohrchirurgie — fand nun auch eine intensivere Bearbeitung, vor allem durch Adolf Miehlke und seine Schüler in Homburg und Göttingen. In Wiesbaden 1981 gab es dann eine umfassende Abhandlung, die auch andere Hirnnerven einbezog. Ich bin nun schon nahe an die Gegenwart herangekommen und würde bei den meisten von ihnen offene Türen einrennen, wenn ich da fortfahre. Als Betrachter, der fast 50 Jahre die Fachentwicklung verfolgt hat, sehe ich mit Staunen, welch einst ungeahnten Möglichkeiten sich in Klinik und Praxis ergeben haben.
Ich denke da an das Cochlea-lmplant-Verfahren, das erstmals 1979 in Berlin Gegenstand noch divergierenden Meinungen war, oder an die Laser-Chirurgie, die Anwendung des Ultraschalls, die erweitert genutzte Endoskopie und die vielen neuen Meßverfahren, von der Rhinomanometrie über die Tympanometrie, die Hirnstromaudiometrie bis hin zu den otoakustischen Emissionen. Auf der Jahresversammlung 1939 in Wien meinte der Vorsitzende Otto Meyer in seiner Begrüßungsrede, das Fach sei nun zu einem gewissen Abschluß gekommen. Etwa zwei Jahrzehnte später kam — auch aus Wien — der Unkenruf, HNO sei ein "sterbendes Fach". Ich meine, der Rückblick zeigt das Gegenteil.
Nun komme ich zum letzten, nur noch kurzen Teil meines Chronistenberichtes, zu den Aufgaben und zum Erscheinungsbild der Gesellschaft einst und jetzt.
Auch da gibt es Entwicklungen, die vor 75 Jahren nicht zu ahnen waren.
Damals schrieb die Satzung lediglich die "wissenschaftliche Förderung" und die "Pflege persönlicher Beziehungen" vor. Der Vorstand hatte eigentlich nur die Jahresversammlung vorzubereiten. Das war in den ersten zwei Jahrzehnten bei 200-300 Teilnehmern und 40-50 Vorträgen kein großes organisatorisches Problem. Es genügte ein mittelgroßer Vortragssaal und eine geringe Hotelkapazität.
Was daraus geworden ist, sehen Sie alle. Zuletzt waren 1.500 Teilnehmer und ihre Begleitpersonen gekommen und mußten untergebracht werden. An die 400 Vorträge, Filme und sonstige Präsentationen verlangen mehrere Säle und einen anspruchsvollen technischen Apparat. Das alles ist nur zu finanzieren, wenn auch eine große Fachausstellung möglich ist. So kommen einst geliebte Tagungsorte wie Bad Reichenhall gegenwärtig nicht in Betracht. Man kann diese Entwicklung auch bedauern, mu8 aber einsehen, dass eine Rückkehr zu den intimen Veranstaltungen von einst nicht möglich ist.
Die Jahresversammlung ist nun einmal die große Leistungsschau unseres Faches in unserem Land. Mit dem Wachstum des Faches und der starken Zunahme der darin Tätigen ist eine große Teilnahme der Fachärzte, der Klinikmitarbeiter, vieler Wissenschaftler und besonders der Ausländer zwangsläufig und auch erwünscht. Es muß denen, die Neues erarbeitet haben, besonders den Jungen, Gelegenheit gegeben werden, ihre Ergebnisse vorzutragen. Wir sprachen früher von der "Remontenschau". Dafür, daß nicht zuviel praxisferne Wissenschaft geboten wird, muss der Vorstand sorgen, eine immer schwierigere Aufgabe.
Unserem Kollegen Bruno Kottwitz aus Kassel, seinerzeit Vorstandsmitglied, ist es zu verdanken, dass der "Tag der Praxis" zur richtigen Gewichtung beiträgt. In den letzten Jahrzehnten sind dem Vorstand viele neue Aufgaben zugewachsen. Er ist — immer zusammen mit dem Vorstand des Berufsverbandes — Ansprechorgan für Ministerien, Ärztekammern, Fakultäten, EU-Gremien, die Presse, um nur das zu nennen. Es geht zumeist um die richtige Einordnung unseres Faches in das System unseres Gesundheitswesens. 1969 wurde der Name der Gesellschaft um die Worte "Kopf- und Hals-Chirurgie" ergänzt. Es sollte damit das erweiterte Spektrum des Faches deutlich gemacht werden, dies auch im Hinblick auf konkurrierende Fächer.
1971 schließlich kam es zur Überarbeitung der Satzung, um die sich u. a. Theodor Hünermann, Düsseldorf, verdient gemacht hat. Die damals erlassenen Hochschulgesetze hatten es möglich gemacht, daß durch Beschlüsse inkompetenter Gremien an den Universitäten eine Aufspaltung dort in mehr oder weniger selbständige Einheiten hätte erfolgen können, wozu unser Fach mit seinen drei Bezeichnungen für Unkundige geeignet erscheint.
Das wäre ein Rückschritt in die Zeit vor der Jahrhundertwende geworden. Julius Berendes in Marburg schuf den griffigen Slogan vom "harmonischen Dreiklang".
So kam das Gebot, die Einheit des Faches zu wahren, in die Satzung. Gleichzeitig wurde es auch demokratischer bei uns. Präsident und Vorstandsmitglieder müssen nun in geheimer Wahl bestimmt werden. Mit dem Wachstum der Gesellschaft und ihren Aufgaben wurde auch eine leistungsfähigere Geschäftsstelle notwendig. Sie ist seit 1975 in Bonn. Ihre Leiterin, Frau Anneliese Karwel, allen vertraut, gehört dort sozusagen zum Inventar. Auch die heutige Eröffnung der Versammlung unterscheidet sich von den mageren Begrüßungen in den ersten Jahrzehnten. Die Bühne ist geschmückt mit einem Emblem. Es zeigt bekanntlich den Kopf des David von Michelangelo in Florenz. Es wurde 1987 von Herrn Wigand, Erlangen, vorgeschlagen und unter weiteren Entwürfen in einer Mitgliederabstimmung ausgewählt.
Dann ist es üblich geworden, daß der Präsident etwas Wegweisendes sagt, und dass neben allerlei Ehrungen ein Festvortrag folgt. Nun, Sie und ich, wir werden ihn gleich hinter uns haben.
Vorher jedoch muß ich noch etwas ansprechen: die Geselligkeit auf unseren Versammlungen. Da hatte von jeher der Vorsitzende die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß den Teilnehmern und ihrer Begleitung etwas angeboten wurde. Es gilt ja immer die Feststellung: ist das gesellschaftliche Programm gut, wird auch ein einmal langweiliger Kongreß ein Erfolg.
Früher war das Festbankett dabei wichtig. Von meinem Vorvorgänger Alfred Brüggemann in Gießen bekam ich dieses Bild (Abb. 23).
Sie sehen den Festabend in Hamburg 1926, die Herren im Frack oder Smoking und die Damen lang und prächtig geschmückt. Der Herr im Vordergrund muß Prof. Hajek, Wien, sein, damals der Vorsitzende. Zu solchen Festbanketten gehörte obligat auch die Damenrede, eine sorgenvolle Aufgabe für den Präsidenten. Einige haben sich darum gedrückt und Befähigtere vorgeschoben, so seinerzeit unser Ehrenmitglied Karl-Heinz Preuße aus Wiesbaden.
Andere, so auch ich, hielten dabei ihren Kopf selbst hin. Unter den gelungenen Damenreden ist mir die von Hans Leicher, Mainz (Abb. 24) in Erinnerung. Leicher, der lange Jahre die Mainzer Klinik leitete und dem wir viele wissenschaftliche Bereicherungen verdanken, verglich in seiner Rede die Damen mit Büchern. Da gab es dann über den Einband und den unterschiedlich zu bewertenden Inhalt allerlei Witziges zu sagen.
In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, daß mehrfach künstlerisch begabte Mitglieder und deren Damen Bilder und Plastiken ausgestellt haben. Nicht vergessen werden darf auch das HNO-Orchester, das Julius Berendes ins Leben rief. Seinen glanzvollsten Auftritt hatte es 1973 auf dem Internationalen Kongreß in Venedig mit einem Konzert in Vivaldis völlig überfüllter Kirche Santa Maria delle Pieta. Noch heute hört man gelegentlich von ausländischen Kollegen, daß das das Beste am ganzen Kongreß gewesen sei. Das Festbankett ist vor einigen Jahren aufgegeben worden. Es war wohl nicht mehr zeitgemäß.
Dafür wurde der übliche Nachmittagsausflug üppig ausgestaltet. Da hat jeder Präsident voll in die Kiste gegriffen und immer etwas Besonderes vorbereitet: Schiffahrt, Feuerwerk, Bierzelt, Zauberkünstler und vieles anderes. Von vielen solcher gelungenen Ausflüge will ich abschließend beispielhaft einen erwähnen. 1961 beim Kongreß in Freiburg fuhr das ganze Tagungsvolk in einem Sonderzug nach Staufen. Im Zug bekam jeder ein Fläschen Kirschwasser ohne Korken. Man konnte es wegwerfen — wer macht das schon — oder es austrinken. So kamen alle in bereits guter Stimmung an. Mit einer Trachtenkapelle voran zog man geschlossen in das autofrei gemachte und geschmückte Städtchen ein. Dort gab es nach einem Bummel zur Burg auf dem Platz vor dem Rathaus zusammen mit der Bevölkerung bei Bier, Wein und Nahrhaftem ein fröhliches Feiern. Der Präsident besetzte das Rathaus (Abb. 25) und sprach von dort zu seinem Volk (Abb. 26). Am Abend dirigierte er dann mit der Dienstmütze der Feuerwehr angetan die Feuerwehrkapelle. Es war — hier mache ich eine Ausnahme und zeige einen Lebenden — unser allseits verehrter Julius Berendes (Abb. 27).
Abb. 25 | Abb. 26 | Abb. 27 |
Damit soll es genug sein. Ich danke fürs geduldige Zuhören.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. K. Fleischer
Wartweg 24
35392 Giessen